Satire / Essay / Fabel



© by Anant Kumar

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© by Anant Kumar, Kassel

DIE HANDTASCHE

Sie zeichnet sich durch zwei Beiwörter aus: tragbar und klein. Ja, die beiden sind wesentlich für sie. Blieben wir beim ersten Epitheton "tragbar", müssten wir auch den handlichen Aldi-Beutel berücksichtigen. Die blaue Tasche ist äußerst tragbar. Sonst werden nicht täglich Tausend Tonnen Kartoffeln, Zwiebeln, und Aldi-Milch von wahren Mitgliedern unserer halb multikulturellen Gesellschaft getragen. Aber das Defizit dieses äußerst praktischen Transporteurs besteht in seiner Größe. Jene Tasche ist halt groß. Sogar so groß, dass sie in unserer Psyche das Image eines Koffers erweckt, sobald sie von den gelassenen, nicht dürren Frauen aus Ankara und Istanbul getragen wird. Also, wir fassen zusammen: Eine handliche Aldi-Handtasche mit Handgriffen ist längst keine Handtasche, weil sie zwar handlich und tragbar ist, aber nicht klein genug, um als eine Handtasche bezeichnet zu werden. Sie ist halt eine tragbare viel gebrauchte Tüte zwischen Handtasche und Türkenkoffer.

Aber wir bleiben beim Hauptthema "Die Handtasche". DIE HANDTASCHE = DIE KLEINE TRAGBARE TASCHE! Einer älteren Dame. Einer modebewußten Bestsellerautorin. Einer jungen Studentin...

Und da ich ein junger Dandy und obendrein noch Student bin, interessiert mich am meisten die Handtasche einer modischen Frau, einer hübschen jungen Studentin. Ich frage mich: Was enthält und verbirgt diese rote erotische Lacktasche, der es gelingt, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und ich beginne zu phantasieren: Schmuckaccessoires? ...Lippenstifte, Rouge, Puder, Pinzette, ...Parfüms?... Poison, Christian Dior, Joop,... Taschentücher? Ein wenig Geld? Kondome? Tanga?... Und bei der Fortführung derartiger Gedankenstränge werde ich erotisiert, und ich kriege eine leichte Erektion.

Dann werde ich von Angst erfasst. Wenn das alles nur Frau Biebermeier wüsste? Frau Biebermeier ist meine Germanistik-Dozentin. Man sieht die nüchterne Wissenschaftlerin im braunen Anzug samt ihrem Vorlesungskoffer von einem Hörsaal zu dem anderen schreiten.

Läse Frau Biebermeier meine erste Inhaltsangabe einer Frauenhandtasche, würde sie zweifach entflammt. Erstmals durch die berechtigte Frage: Wieso traue ich mich als Mann über einen Frauengegenstand zu schreiben? Unverschämt! Und zweitens durch meinen triebhaften, hypermännlichen, sexistischen Zugang zu dem Sachverhalt.

Ja, ich kriege Angst. Sie könnte zum Frauenreferat, zur Bildzeitung gehen. Brigitte wird über mich recherchieren, und das Volksblättle Bild wird große Plakate in den Straßenbahnhaltestellen aufhängen.

Ich frage Karl-Heinz, meinen Mitbewohner. Karl-Heinz belehrt mich: "Die Handtasche ist ein Schutzobjekt für die Frauen. Und die Frauen brauchen halt ein Schutzobjekt, einen Halt, um sich zu schützen!..."

Karl-Heinz ist ein Deutscher. Ich bin ein Inder. Wir beide sind Männer. Männerchen halt! Homo sapiens.

Ich protokolliere alles und lese das bisher Geschriebene über die Handtasche. Mit einer Gänsehaut. Es fröstelt mich. Ich fange an, zu zittern. Nein, so was darf aus meiner Feder nicht veröffentlicht werden.

Durch das Hinzufügen des Karl-Heinz-Beitrages ist der Text noch gefährlicher geworden. Ein zusätzlicher Aspekt, das indische Pascha-Bild, ist ins Spiel gerutscht. Das würde CDU bis PDS unterstreichen. Indisches Frauenbild vor der deutschen Tür. Ein trauriges indisches Frauengesicht mit rotem Punkt vor dem Brandenburger Tor auf einem gigantischen Plakat! Überdimensional hat mehr Wirkung. Frau Biebermeier wird von den Politikern Unterstützung kriegen. Und ich - Ärger auf der Ausländerbehörde des Landkreises Kassel.

Ja, nächstes Mal wird meine Aufenthaltsbewilligung nicht verlängert. In der Akte wird ein weiterer Vermerk stehen (Nur für internen Gebrauch: Das aktuelle Schaffen des indischen Schriftstellers trägt zum Zusammenleben der Kulturen in Deutschland nicht bei. Er muss ausgewiesen werden).

Dabei kann mir kein Fan, niemand, helfen. Auch Claudi nicht. Claudi möchte mich nicht heiraten. Und ich sie nicht. Wir beide lieben uns, und halten Heiraten derzeit für einen überflüssigen, unverständlichen Papierkram.

Nein, ich möchte nicht abgeschoben werden. Meine Schreibheimat ist die Einzige. Und ich schreibe und schaffe nur in unserem Konglomerat der Multikultis.

Also, ich erspare mir den Ärger. Ich entschuldige mich, und ich schreibe nochmals die Inhaltsangabe unserer Frauenhandtasche: Sie ist 12 x 12 cm groß und besteht aus Lack. Der schwarze Lack glänzt wie der vorige Rote. Die quadratische Tasche hat Handgriffe und enthält Folgendes: Viel Geld, Börsen-Unterlagen, eine Nietzsche-Lektüre (Also Sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen), Brot mit Salami und einen schwarzen Revolver.

Der Revolver ist schwarz. Die Tasche auch. Die beiden sind Schutzobjekte. Und ich hoffe, dass ich jedem einigermaßen gerecht geworden bin: dem Thema, Karl-Heinz, Frau-Biebermeier, der Ausländerbehörde, den Indern, den Atombombenbesitzern, deren dreiäugige Göttin Kali die ganze Welten verwüsten kann.

(Aus: "Die galoppierende Kuhherde", Essays und andere Prosa,
2001, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt, ISBN 3-932497-58-9
Broschur, ca 120 Seiten,
mit Grafiken des renommierten Künstlers Michael Blümel)

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© by Anant Kumar, Kassel

Muttersprache, Fremdsprache und Dichtung

Vor einigen Jahren stellte ich mich während einer Lesung im Autoren-Café als "deutsch-indischer Dichter" vor. Sofort merkte ich eine gewisse Irritation im Publikum.

Verehrte Damen und Herren! Ob Sie es glauben oder nicht, fällt diesem Dichter in seiner jetzigen Schaffensphase kein treffenderer Ausdruck ein als diese zwei Beiwörter "deutsch und indisch", um sich selbst zu bezeichnen.

Selbstverständlich ist Deutsch für mich eine Fremdsprache. Meinem Willen nach wird das weiter so bleiben, das heißt, ich möchte Deutsch wie die Einheimischen weder "akzentfrei" sprechen noch "fehlerlos" schreiben. Wie viele oder ob Einheimische akzentfrei sprechen und fehlerlos Deutsch schreiben, gehört wiederum zu einem anderen Bereich. Allerdings benutze ich die Fremdsprache Deutsch auf keinen Fall bloß für einen blödsinnigen sinnlosen Smalltalk mit einem Nativespeaker vor dem Kasseler Rathaus. Sie, die fremde Zunge, ist für mich das Instrument, mit dessen Hilfe ich Geschehnisse und Phänomene meiner Umwelt erfasse und sie weiter verarbeite: Organon der literarischen Verarbeitung!

Liebe Leser! Falls Ihnen diese Behauptung an dieser Stelle zu vage oder gar unglaubhaft vorkommt, gebe ich Ihnen als Gleichnis die Hauptformel der heutigen Deutschlehrer, mit der sie den Ausländern gutes Deutsch beizubringen versuchen. Diese Zaubermethode heißt: "Denk auf Deutsch, dann kannst du Deutsch sprechen!" Viele gehen sogar so weit: "Wenn du in einer Nacht Deutsch geträumt hast, wirst du vom nächsten Morgen an fließend Deutsch sprechen!" Bei mir verlief dieser Prozess jedoch etwas anders. Meine Träume und mein Schreiben im Deutschen sind flüssiger und schöner als mein tägliches Gelaber. Gott sei Dank!

Kurz gefasst heißt das alles, dass ich in einer Fremdsprache, die hier Deutsch ist, kommuniziere, denke und träume...

Diejenigen, die noch denken, dass Gedichte bloß unsere Empfindungen und Gefühle sind, könnten von mir aus eine bestimmte Leser- bzw. Konsumentengruppe bilden, aber weniger wirkliche Liebhaber der Poesie sein. In einer Lesung wurde ich von einer Kollegin gefragt: "Wie kannst du so was? Gedichte sind für mich die innersten Gefühle und Empfindungen, die ich mir nur in meiner Muttersprache vorstellen kann." Diese Sorte Menschen können durchaus Gefühle haben. Sie sind jedoch keine schöpferischen Wortakrobaten, die in ihrem Schaffen ihre Empfindungen mal erbarmungslos kalt ausschlachten oder mal übertrieben zugespitzt verschönern, um vielleicht dem Wesen und der Erscheinung ein Stück näher zu rücken. Die Dichtkunst hat ihre eigene Sprache. Sie hat ihre eigenen Regeln und Gesetze, die sich weniger mit einer Formel a2 + b2 = c2 vergleichen lassen. Die Aufgabe der Kunst besteht im ständigen Überschreiten derartiger Formeln. Damit kennt jeder Text und jedes Kunstwerk seine eigenen Gesetze, über die sich zum Teil bezüglich des entstandenen Werkes und teilweise hinsichtlich des Schaffenden diskutieren lässt.

Wie schwierig und einfach in einer Sprache, auch in der Muttersprache, der gesuchte und treffende Begriff zu finden ist, kennen Sie schon von der Korrektur Ihres Deutschaufsatzes in der Schule und Ihrer Seminararbeiten an der Universität. Den Verfechtern des genauen Begriffs möchte ich meine Stellungnahme zu dieser Problematik vorlegen und zwar, dass ich in der Hinsicht einen meiner Lehrer Alfred Döblin weiter huldigen werde: Die Sprache kann nur versuchen, sich der Wirklichkeit anzunähern und eine gewisse Genauigkeit zu erreichen. Aber sie hat ihre Grenzen. Also, weg von dem Wahn des genauen Ausdruckes. Die Suche nach einer Sprache, welche die Dinge und Geschehnisse wirklichkeitsgetreu darstellen soll, ist vergeblich. Sie ist eine Einbildung!

Meine Muttersprache "Hindi" ist der zweite Teil meines Denk-, Schreib-, und Sprechinstrumentes. Dies gilt bis zum heutigen Tag, an dem ich diesen Aufsatz verfasse. Unter diesem Aspekt ist der zweite Teil des Adjektivs "indisch" mit meinem indischen Wesen und mit meiner Muttersprache "Hindi" gleichzusetzen. Ich weiß nicht genau, in welchen Verhältnissen diese zwei von mehreren anderen Sprachen in meinem Gehirn agieren. Bei mir stelle ich nur fest, dass eine der anderen hilft, und die beiden Sprachen, nämlich Deutsch und Hindi, mir in gleicher Weise wichtig sind.

Es gibt Menschen, die für alle Phänomene Beweise verlangen. Sie werden an dieser Stelle mit ihrem Lauthals schreien: "Weis uns nach, wie es geht! Komisch! Eigenartig! Ich kann es nicht verstehen!"

Verehrte Leser! Dann könnte ich mich für die scheinbare flüchtige Zufriedenheit jener Kreaturen als Untersuchungsobjekt den Psychologen, Psychiatern, Linguisten,... unter der Voraussetzung zur Verfügung stellen, dass mein Schreiben in Deutsch weiter fortgesetzt wird.

Auch eine bestimmte Gruppe meiner Kasseler Germanistikkommilitonen, die mich wiederholt fragen: "Warum schreibst du auf Deutsch?" werden an dieser Stelle höchstwahrscheinlich erstmals ein langes Gesicht machen und dann solche Äußerungen herausbringen: "Was soll das sein? Warum möchte er uns belehren? Das kennen wir doch alles vom Psycholinguistikseminar." Derartige Fragen und Äußerungen erinnern mich vor allem an die Mehrheit meiner Neu-Delhier Kommilitonen, die sich ausschließlich für die Note ein paar Tage vor der Klausur an dem Paukwettbewerb beteiligten. Gleich nach zwei Tagen waren die auswendig gelernten Theorien und Ideologien passé. Hegel, Hesse, Habermas, Chomsky,... wurden bis zu der nächsten Klausur aus ihrer pragmatisch funktionierenden Welt verbannt. Schade um die Tonnen Papier, die in Erwartung auf gute Noten mit den Worten jener Dichter und Denker immer wieder geschwärzt wurden. An ihrer Stelle tauchten beim Neu Delhier Bildungsbürger wieder die gängigen Vorurteile und Klischees auf: Einer aus Neu-Delhi oder aus Bombay sah auf die anderen Dörfler herab, die scheinheilige Brahmanen-Intelligentia aus dem "progressiveren" Bundesland Maharastra verbündete sich heimlich gegen die unteren Kasten und gegen die unterentwickelten Regionen. Natürlich preisen in der Öffentlichkeit diese machtgierigen oberen Schichten Emanzipation, Gleichberechtigung, Abschaffung der Kastenhierarchie, Aufbau einer humanistischen sozialistischen Demokratie,... an. Ich zweifele jedoch immer wieder daran, dass viele der Bildungsbürger, auch die der westeuropäischen pluralistischen Demokratie, wirklich eine Änderung wollen. Gerade dann, wenn es um den Vorrang des Eigenen und des Vertrauten geht!

Meine Damen und Herren! Zu jeder These gehört auch eine Antithese, und die Stellungnahmen eines schaffenden Künstlers können bis heute in seltenen Fällen allen gerecht werden. Und ich betrachte mich nicht als Ausnahme dieser Regel. Also, sollten meine Worte und meine "andersartige" Dichtung einige immer noch irritieren, und sollten jene Menschen eine Qualitätsänderung in der deutschen Literatur fürchten, dann möchte sie dieser deutschsprachige Autor indischer Herkunft herzlich um das Recht bitten, weiterhin auf Deutsch zu schreiben und seine Literatur in einem türkischen Verein auf Deutsch vorzutragen. Seltsam! Da fühlen sich wieder einige, wie auch viele meiner deutschen Leser, von derartigen Texten angesprochen.

(Aus: "Die galoppierende Kuhherde", Essays und andere Prosa,
2001, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt, ISBN 3-932497-58-9
Broschur, ca 120 Seiten,
mit Grafiken des renommierten Künstlers Michael Blümel)

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© by Anant Kumar, Kassel

DER FALKENJUNGE

Sawitri liebt Raubvögel. Davon mag sie am meisten den Falken. Sie sagte mir: "Ein Falke ist weder zu groß noch zu klein. Sein Körper ist wohlgeformt, und ein Falke fliegt ästhetisch: Ewig gleitet er lässig unter einem azurblauen, indischen Himmel. Aber er kann seine Geschwindigkeit blitzschnell erhöhen. Und beim Jagen schießt er. Er ist nicht gierig und sitzt nicht lange um ein verfaultes Aas. Und jetzt erzähle ich Dir eine Falkengeschichte:

Ein erschöpfter Aasgeier, dessen Rinderaas von Hyänen weggenommen wurde, saß sauer und fragte sich:
>Werde ich scheitern?
Oder scheitere ich schon?<

Ähnlich grübelte verzweifelt ein indischer Uhu, dem eine Schlange entlaufen war:
>Entrinnt mir die Fähigkeit?
Oder beharrt sie auf Gestrigem?
Oder ob ich sie - die Fähigkeit - jemals besaß?<

Seine philosophische Quintessenz zog der Adler nüchtern:
>Jeder Gedanke hat seine Rechtfertigung.
Und damit jedes Verzweifeln.<

Unbekümmert von all diesem flog ein Falke höher und wilder. Seine Krallen stürmten. Mal schnappte er mit Erfolg einen Fisch. Aber oft stießen seine Krallen schmerzhaft bloß gegen die Felsen. Voller Schmerz flog der Falke noch höher und noch wilder. Und dabei dachte er sich: >Das ist meine Natur. Das ist meine einzige Fähigkeit. Nichts anderes kann ich ...<
Somit drehte sich der Falkenjunge blitzschnell und seine Krallen stürmten.


(Aus: DIE INDERIN, Wiesenburg Verlag,
Schweinfurt 1999, ISBN 3-932497-32-5)



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